Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshof hat offenbar heute entschieden (Urteil vom 2. März 2010 – VI ZR 23/09, Gründe gibt’s noch nicht, Pressmitteilung hier), dass – jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs der EuGVVO – die deutschen Zivilgerichte für Klagen wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch einen im Internet abrufbaren Artikel international zuständig sind, wenn der Artikel deutliche Bezüge nach Deutschland aufweist. In dieser Allgemeinheit mag das nicht so bahnbrechend klingen, doch das Urteil kommt als Wolf im Schafspelz daher, denn: Im konkreten Fall hat der BGH dies für englischsprachige Veröffentlichungen auf der Website der New York Times bejaht.
In der Folge muss die New York Times bei Artikeln mit Deutschlandbezug nach Meinung des BGH deutsches Äußerungsrecht einhalten, denn im Deliktsrecht sind die Kriterien für die Begründung eines deutschen Gerichtsstands (§ 32 ZPO) und für die Anwendbarkeit deutschen Rechts (Art. 40 EGBGB) im Wesentlichen identisch. Entscheidend kann demnach sein, wo der Erfolg der deliktischen Handlung eintritt. Als Konsequenz ist dies alleine deswegen schon bemerkenswert, weil ein massives “Zulässigkeitsgefälle” zwischen dem einseitig von einer denkbar starken Meinungsfreiheit geprägten Presserecht der USA und dem im internationalen Vergleich vergleichsweise vitalen Persönlichkeitsschutz der Bundesrepublik besteht. In den USA darf man einfach mehr sagen und schreiben als in Deutschland. Die von den Äußerungen Betroffenen haben, wenn überhaupt, weit weniger Rechte. Wer je mit einem Amerikaner darüber diskutiert hat, warum man die Namen von strafrechtlich verurteilten Mördern oder Kinderschändern nicht veröffentlichen dürfen soll oder warum nicht jeder Seitensprung eines Politikers in die Presse gehört, weiß wovon ich spreche. In den USA gibt es keine mit dem deutschen Verfassungsrecht vergleichbare Struktur eines Persönlichkeitsrechts. Für den Amerikaner wäre die Anerkennung eines so weitgehenden Rechts eine einzige verfassungswidrige Katastrophe.
Wie gesagt, die Entscheidungsgründe sind noch nicht verfügbar. In der Pressemitteilung erläutert der BGH sein Urteil folgendermaßen:
“Der angegriffene Artikel weist einen deutlichen Inlandsbezug auf, der ein erhebliches Interesse deutscher Internetnutzer an seiner Kenntnisnahme nahe legt. In dem angegriffenen Artikel wird der in Deutschland wohnhafte Kläger namentlich genannt. Ihm werden unter Berufung auf Berichte europäischer Strafverfolgungsbehörden Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt. Es wird behauptet, seine Firma in Deutschland sei ausweislich der Berichte deutscher Strafverfolgungsbehörden Teil eines Netzwerkes des internationalen organisierten Verbrechens und dem Kläger sei die Einreise in die USA untersagt. Bei dieser Sachlage liegt es nahe, dass der Artikel im Inland zur Kenntnis genommen wurde oder wird. Bei der “New York Times” handelt es sich um ein international anerkanntes Presseerzeugnis, das einen weltweiten Interessentenkreis ansprechen und erreichen will. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war und ist die Online-Ausgabe der Zeitung auch in Deutschland abrufbar. Deutschland ist im Registrierungsbereich des Online-Portals ausdrücklich als “country of residence” aufgeführt. Im Juni 2001 waren nach den Feststellungen des Berufungsgerichts 14.484 Internetnutzer registriert, die Deutschland als Wohnsitz angegeben hatten.”
Ich halte die Entscheidung – spontan und vorbehaltlich einer gehörigen Wissens- und Gewissensüberprüfung sowie einem eingehenden Studium der endgültigen Entscheidungsgründe – für äußerst fragwürdig. Der spezifische, von § 32 ZPO in Gestalt des Delitkserfolgs geforderte Inlandsbezug lässt sich nicht einfach deswegen bejahen, weil über einen Vorgang berichtet wird, der sich auch in Deutschland abspielt oder dessen Protagonisten in Deutschland ansässig sind. Dass die New York Times ein populäres Angebot ist, liegt auf der Hand. Sie gilt als Hort der amerikanischen Pressefreiheit und dient als erste Quelle, wenn man sich über eine aufgeklärte amerikanische Sicht der Dinge informieren will. Dass exakt dieses Informationsbedürfnis über den Blick aus dem amerikanischen Ausland auf unsere Gesellschaft nun dazu führen soll, dass ein Deliktserfolg ausgerechnet in Deutschland eintritt, erachte ich nicht zuletzt deswegen für kritikwürdig, weil mit diesem Argument von der New York Times die Beachtung jeder Rechtsordnung der Welt verlangt werden könnte. Umgekehrt führt diese Argumentation im Ergebnis in einer durch das Internet vernetzten Welt zu einer universellen Zuständigkeit der deutschen Gerichte für Veröffentlichungen auf ausländischen Websites auch in nicht-deutscher Sprache, die § 32 ZPO gerade nicht begründen will – solange die Website nur geeignet ist, einen Interessenkreis in Deutschland anzusprechen, die Person, die Gegenstand der Berichterstattung ist, nur in Deutschland wohnt und über etwas berichtet wird, für das sich auch die deutsche Öffentlichkeit interessieren könnte. Und wenn sich die New York Times weigert, deutsches Recht einzuhalten? Sperrungsverfügung?
Aus den geschilderten rechtskulturellen Gründen wird dieses Urteil den Amerikanern schwer zu vermitteln sein. Akzeptanzprobleme und Abwehrreaktionen sind unvermeidlich. Ich gehe daher davon aus, dass – vielleicht nicht notwendig im konkreten Fall, zumindest aber mittelfristig – der Streit vor den amerikanischen Gerichten im Vollstreckunfgsverfahren fortgeführt wird. Es würde mich sehr wundern, wenn die US-Gerichte nicht die Safeguards des First Amendment eingreifen ließen, um die amerikansiche Presse und ihre besonderen Freiheiten vor örtlichen Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung deutscher Urteile zu verhindern.
Zur Rechtfertigung dieses Beitrags noch Folgendes:
In der Regel blogge ich nur über Dinge, die bei uns in der Kanzlei über die Schreibtische laufen oder zu denen ich einen persönlichen Bezug habe. Über andere rechtliche Themen schreibe ich (anderswo schon, hier aber) normalerweise nicht, auch wenn sie von allgemeinem Interesse oder von Relevanz sind. Das tun andere gut, und ich finde, dass ohnehin schon mehr über Gesetze und Urteile gebloggt wird, als die Community verarbeiten kann. In diesem Umfeld kann meine eigene, im Blog kundgegebene Meinung einer juristischen Debatte nur selten einen wahren Mehrwert hinzufügen, sofern sie im allgemeinen Geschnatter überhaupt vernommen wird. In diesem Beitrag muss ich aber eine Ausnahme machen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hat heute das Bundesverfassungsgericht in einem wunderbaren Move die Vorratsdatenspeicherung gekippt, was andererseits aber die Gefahr mit sich bringt, dass alle anderen wichtigen Themen einfach untergehen. Zweitens ist das Thema so dermaßen verdammt wichtig und die Entscheidung so unerwartet spektakulär, dass ich es einfach zur Diskussion stellen muss.
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